Frankfurter Erklärung zur Europapolitik

Die EU ist, wie Heinrich August Winkler treffend formuliert, „eine historisch einzigartige Ausprägung der politischen Kultur des Westens“. Der gemeinsame europäische Wertekanon ruht im Wesentlichen auf vier Säulen:

(1) unveräußerliche Menschenrechte
(2) Gewaltenteilung
(3) Volkssouveränität
(4) Rechtsstaatlichkeit.

Die FDP Frankfurt ist vor dem Hintergrund der Staatsschuldenkrise und der vorausgegangenen Finanzkrise in Sorge um das Projekt Europa. Dessen gemeinsame Werte drohen von vermeintlich alternativlosen Eilentscheidungen überlagert und damit beschädigt zu werden. Dies zeigt nicht zuletzt die aktuelle Diskussion um eine frühzeitige und angemessene Beteiligung der nationalen Volksvertretungen an europäischen Entscheidungen. Der Euro ist nicht wichtiger als die Erhaltung der europäischen Wertegemeinschaft. Wir wollen am Euro festhalten, ohne Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verlieren.

Das Fehlen einer europäischen Zentralmacht hat die Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten befördert, wenn nicht überhaupt erst möglich gemacht. Wilhelm Röpke, einer der Vordenker der sozialen Marktwirtschaft hat dies so formuliert: Europa ist „Name eines gemeinsamen Kultur-, Wert- und Gefühlsystems. Jedes Monolithische, starr Schablonenhafte ist ihm fremd, und keine Feststellung ist hier zugleich wahrer wie unbestrittener als die, dass es das Wesen Europas ausmacht, eine Einheit in der Vielfalt zu sein, weshalb dann alles Zentristische Verrat und Vergewaltigung Europas ist, auch im wirtschaftlichen Bereiche.“

Die Frankfurter FDP bekennt sich nachhaltig zu diesem gemeinsamen europäischen Wertekanon und strebt eine vom Subsidiaritätsgedanken geprägte politische Union Europas an, welche die Vielfalt Europas bewahrt und eine einheitliche Stimme Europas in der Welt ermöglicht.

Dies vorausgeschickt, bitten wir alle Mandats- und Funktionsträger der Freien Demokratischen Partei,

  • eine öffentliche Debatte zum liberalen, demokratischen, in Freiheit geeinten Europa der Zukunft zu führen
  • sich entschieden zum Projekt eines demokratischen, auf Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Volkssouveränität und unveräußerlichen Menschenrechten beruhenden Europa zu bekennen
  • für eine vom Subsidiaritätsgedanken geprägte politische Union Europas einzutreten, welche die Vielfalt Europas bewahrt und eine einheitliche Stimme Europas in der Welt ermöglicht
  • an der Ablehnung der Vergemeinschaftung nationaler Schulden durch Eurobonds, Schuldentilgungsfonds oder ähnliche Instrumente festzuhalten und sicherzustellen, dass auch zukünftig gewährleistet bleibt, dass Haftung einerseits und Kompetenzen andererseits nicht auseinanderfallen
  • die Finanzierung von Konjunkturprogrammen auf Pump abzulehnen
  • sich für Wachstumsimpulse durch institutionelle und strukturelle Reformen im Rahmen des europäischen Wertekanonas auszusprechen, die den offenen Wettbewerb fördern, monopolistische und oligopolistische Auswüchse jedoch verhindern
  • die Forderungen des Rostocker Parteitages zur Verhinderung künftiger Schuldenkrisen nach diesen Maximen fortzuentwickeln und umzusetzen.

Die wirtschaftliche und politische Basis Europas:

Die europäische Integration stand über lange Zeit im Zeichen freier Marktwirtschaft mit unverfälschtem Wettbewerb. Ordoliberales Denken war nicht nur Grundlage des deutschen Wirtschaftswunders, sondern gab auch der europäischen Wirtschaftsverfassung entscheidende Impulse. Der Binnenmarkt für Waren, Dienstleistungen und Kapital, sowie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer machten Europa zu einem Raum des Rechts, des Friedens und der Freiheit. Die europäischen Institutionen bewirkten eine allmähliche Öffnung der Märkte unter Zurückdrängung wettbewerbsfeindlicher Staatseingriffe. Die FDP förderte und gestaltete diese Entwicklungen aus tiefer Überzeugung. Europa war eine liberale Erfolgsgeschichte. Ihre Vollendung in einem europäischen Bundesstaat nach amerikanischem Vorbild schien erreichbar. Der Einführung des Euro, von Regierungen und Wirtschaft gefeiert, von den Bürgern bald akzeptiert, sollte als Krönung die politische Union folgen.

Strukturdefizite der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion:

Tatsächlich aber begünstigte der Euro den Aufbau massiver makroökonomischer Ungleichgewichte, die ihrerseits zu Lohn- und Immobilienblasen und einer Schwächung der Exportwirtschaft in den südlichen Ländern führten. Heute gilt die Staatsschuldenkrise der Euro- Zone als größtes Stabilitätsrisiko für die Weltwirtschaft. Anstatt „der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum“ der Welt zu sein, wie es die Lissabon-Agenda 2003 vollmundig verhieß, sind immer mehr Euro-Länder von externer Hilfe abhängig, oder werden, wie im Falle Griechenlands, nur noch künstlich am Leben erhalten. Die Ursachen hierfür liegen wesentlich im Politikversagen auf europäischer und nationaler Ebene. Die Finanzkrise hat die Strukturprobleme der Euro-Zone nicht geschaffen, sondern nur bloßgelegt.

Die bisherige Rettungsschirmpolitik und die Hilfsmaßnahmen der EZB haben nur die akuten Folgen der Strukturprobleme aufgeschoben, aber keines gelöst. Keiner der Rettungsschirme erscheint groß genug, um die Refinanzierung und Wettbewerbsfähigkeit aller schwachen Euro- Länder nachhaltig wiederherzustellen. Angesichts der scheinbar uferlosen Finanznöte sehen immer mehr Regierungen eine völlige Vergemeinschaftung der Schulden als einziges Mittel, um das Vertrauen in die Stabilität der Euro-Zone wiederherzustellen. Entsprechende Vorschläge tragen so harmlose Namen wie Projektbonds und Bankenunion.

Die Frankfurter FDP sieht es demgegenüber als den falschen Weg an, die Staatsschuldenkrise durch neue Schulden zu bekämpfen. Wir lehnen insbesondere die Vergemeinschaftung nationaler Schulden ab. Denn dies beseitigt nicht die Ursachen der Staatsschuldenkrise, sondern schafft neue Fehlanreize und überfordert langfristig die Körperschaften, die unter
Verzicht auf Konsum und soziale Sicherheit solide gewirtschaftet haben.

Daher lehnen wir auch kreditfinanzierte Konjunkturprogramme ab. Nach aller Erfahrung bewirken sie kein nachhaltiges Wachstum, sondern höhere Schuldenberge. Die Frankfurter FDP setzt sich vielmehr für Wachstumsimpulse durch institutionelle und strukturelle Reformen ein, welche Freiräume für die Entfaltung der Leistungsträger und damit Wachstum schafft. Dabei ist stets darauf zu achten, dass der Wettbewerb sichergestellt ist. Weder darf es wettbewerbsbeschränkende monopolistische oder oligopolistische Marktstrukturen geben, noch dürfen auf Märkten systemrelevante Strukturen entstehen, die dazu führen, dass es staatlicher Unterstützung bedarf, um ein Übergreifen von Marktverwerfungen auf andere Wirtschaftsbereiche zu vermeiden.

Wege aus der Schuldenkrise / Rostocker Parteitagsbeschlüsse nicht aufgeben, sondern fortentwickeln

Auf ihrem 62. Bundesparteitag Am 15. Mai 2011 formulierte die FDP acht Forderungen zur Bewältigung dieser, und Verhinderung künftiger Schuldenkrisen. Sie haben sich bislang leider als im Wesentlichen unerfüllbar erwiesen:

o Zu Ziff. 1: Der Fiskalpakt enthält keine automatischen Sanktionen für die Nicht-Einführung einer Schuldenbremse. Die Kommission hat kein Klagerecht. Die Verhängung von Sanktionen wird damit zur politischen Entscheidung. Auch im Übrigen enthält der Fiskalpakt zahlreiche Unklarheiten, die ihn für politisch getriebene Aufweichungen anfällig machen

o Zu Ziff. 2: Das Ultima-ratio-Prinzip wird nach aller bisherigen Erfahrung in der Praxis des ESM nicht durchsetzbar sein

o Zu Ziff. 3: Im Falle Griechenlands wurden Hilfsgelder aus dem EFSF ausbezahlt, obwohl die Schuldentragfähigkeit unstreitig nicht gegeben ist. Regeln für eine geordnete Staateninsolvenz, wie sie auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium vorgeschlagen hat, sind jenseits der cac-Klauseln vom Tisch. Der ESM-Vertrag sieht eine Haftung privater Gläubiger ausdrücklich nur in Ausnahmefällen vor

o Zu Ziff. 4: Der ESM ist zum Kauf von Staatsanleihen am Primär- und Sekundärmarkt ermächtigt. Nicht ausdrücklich geregelte Maßnahmen können vom Gouverneursrat einstimmig beschlossen werden, ohne dass es dafür einer Vertragsänderung bedarf. europäische Industriepolitik und Euro-Bonds sollen der Sache nach in Gewand von Projekt- Bonds und einem gemeinsamen Schulden-Tilgungsfonds verwirklicht werden. Der Schuldenvergemeinschaftung dient auch eine europäische Einlagensicherung zur Bankenrettung

o Zu Ziff. 5: Der strikte Parlamentsvorbehalt ist durch die rechtliche Ausgestaltung des ESM akut gefährdet

o Zu Ziff. 6: Deutschland wird im ESM-Direktorium nur einen Sitz haben

o Zu Ziff. 7: Eine Rückführung der Ausleihkapazität des ESM nach dessen Ausleihphase ist nicht vorgesehen. Vielmehr ist die Mitgliedschaft im ESM unwiderruflich. Nach aller Erfahrung ist damit zu rechnen, dass der Gouverneursrat rasch Kapitalerhöhungen oder die Ausgabe von Anteilen mit Aufgeld beschließen wird, um die Ausleihkapazität des ESM dem rapide wachsenden Kreditbedarf der überschuldeten Staaten anzupassen.

o Zu Ziff. 8: die Erwartung, die EZB werde die Target-Forderungen von damals € 340 Mrd. zurückführen, hat sich nicht erfüllt. Stattdessen hat sich ihr Volumen seither fast verdreifacht.

Die FDP darf sich von diesem Befund nicht entmutigen lassen, sondern muss daraus die richtigen Lehren für ein liberal verfasstes Europa der Zukunft ziehen.

Risiken der Rettungsschirmpolitik:

Die derzeitige Rettungsschirmpolitik birgt erhebliche Risiken und droht die Grundlagen eines in Freiheit geeinten Europas zu gefährden:

  • wachsende Schuldenberge auch in den Geberländern in Verbindung mit den exorbitanten Haftungsrisiken bergen enormes Konfliktpotential und beinhalten das Risiko steigender Kapitalmarktzinsen in allen Euro-Staaten
  • die Gefahr der Entwertung von Ersparnissen und Altersrücklagen durch Inflation und die Risiken der exorbitanten Target-Salden der Zentralbanken gefährden Wohlstand und sozialen Frieden
  • die „kreativen“ Interpretationen der No-Bail-out-Klausel und die in der ursprünglichen Konzeption der Wirtschafts- und Währungsunion nicht vorgesehenen Erweiterungen des EZB-Mandats über den Kernbereich einer Notenbank hinaus drohen die rechtsstaatlichen Grundlagen Europas zu unterwandern
  • eine drohende schleichende Entmachtung der nationalen Parlamente durch Verlagerung von Entscheidungen auf EU-Regierungskonferenzen und Defizite bei der Information der nationalen Parlamente wird nicht durch einen entsprechenden Zuwachs an demokratischer Kontrolle auf EU-Ebene ausgeglichen
  • Teile der EU-Bevölkerung haben das Vertrauen in das europäische Einigungsprojekt im Allgemeinen und die Rettungsschirmpolitik im Besonderen verloren
  • der entstehende Eindruck, Hilfsgelder kämen nicht den Bedürftigen zugute, sondern Banken und Hedgefonds außerhalb der Euro-Zone, die sich dadurch in ihrer Erwartung bestätigt sehen dürfen, die auf deutschen Druck eingeführte No-bail-out-Klausel sei von Anfang an Makulatur gewesen, ohne die eigentlichen Ursachen der Staatsschuldenkrise anzugehen, gefährdet die erforderliche breite öffentliche Zustimmung in den betroffenen Staaten für die gebotenen Strukturveränderungen.

Die Zeit drängt: die FDP muss liberale Antworten auf die Zukunftsfragen Europas geben:

Die FDP ist prädestiniert, die führende Sammlungsbewegung aller verantwortungsbewussten und liberalen Menschen zu sein, die für ein nach ordnungspolitischen Grundsätzen verfasstes Europa eintreten. In keiner Partei wurde der Zielkonflikt zwischen dem bürgerlich-liberalen Wertekanon und der europäischen Rettungspolitik so offen ausgetragen wie in der FDP. Vorläufiger Höhepunkt dieses Zielkonflikts war die Mitgliederbefragung zum ESM im Herbst 2011. Sie wurde jedoch von Befürchtungen um die Einheit der Partei beeinflusst.Die Zeit drängt: In den nächsten zwölf Monaten wird sich zeigen, ob sich Europa seiner liberalen Wurzeln erinnert und die Kraft zu nachhaltigen Reformen findet, oder weiterhin dem Weg in die
Schuldenunion beschreitet.

In den nächsten zwölf Monaten wird sich auch zeigen, ob die FDP im Spannungsfeld zwischen liberaler Vernunft und europäischer Wirklichkeit mit überzeugenden Standpunkten bürgerliche Wählerschichten und damit politische Gestaltungskraft zurückgewinnen kann. Es wird darauf ankommen, dass die FDP in der Europapolitik zu liberalen Antworten auf die Schuldenkrise zurückfindet und konsequent zu ihnen steht. Ordnungspolitisch durchdachte Vorschläge wurden etwa vom Wissenschaftlichen Beirat beim BMWi¹ und der European Economic Advisory Group² vorgelegt. Sie reichen von geordneter Staateninsolvenz über die Zwangskapitalisierung von Banken bis hin zu einer ordnungspolitisch vertretbaren, zeitlich begrenzten Vergemeinschaftung von Staatsschulden.

Die FDP muss dringend handeln, bevor Europa-feindliche Kräfte die Meinungsführerschaft übernehmen und die Gesundung unseres in Freiheit geeinten Kontinents vereiteln.