Europa der Subsidiarität und Solidarität

Ab dem 1. Juli 2020 übernimmt Deutschland für sechs Monate die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union (EU), einem der wichtigsten Organe der EU. Die Ratspräsidentschaft wird zweifelsohne ganz im Zeichen der Bekämpfung und Bewältigung der Corona-Krise stehen. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihre Regionen schwer getroffen. Das bringt zahlreiche Herausforderungen mit sich, die wir annehmen werden, und potenziert die Gefahr einer Anti-Europastimmung, der wir dringend begegnen möchten.

Die Erkenntnisse, die wir aus dem Umgang mit der Krise gewonnen haben, müssen in praktische Politik übersetzt werden. Deshalb wollen wir …

… uns für eine vertiefte Europäische Gesundheitspolitik einsetzen.

Die Mitgliedstaaten tragen die volle Verantwortung für die Organisation des nationalen Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung. Somit ist die Gesundheitspolitik der EU im Wesentlichen nach wie vor Angelegenheit der Nationalstaaten. Noch im Weißbuch zur Zukunft Europas aus dem Jahr 2017 wurde die Gesundheitspolitik als einer der Bereiche aufgeführt, aus dem sich die Kommission weiter zurückziehen könne.

Die grenzüberschreitende Ausbreitung des Virus erinnert uns jedoch daran, dass die europäische Gesundheitspolitik stärker beachtet, ausgebaut und gefördert werden muss. Für eine echte gemeinsame europäische Gesundheitspolitik bedarf es einer Änderung der EU-Verträge. Doch bereits ohne diese Änderung der Verträge lässt sich der bestehende Rahmen besser nutzen und die europäische Kooperation im Gesundheitsbereich intensivieren.

  • Wir fordern eine verstärkte Unterstützung digitaler Lösungen im Gesundheitswesen unter besonderer Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Standards.
  • Wir fordern eine europäische Arzneimittelstrategie zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung in allen EU-Staaten durch Novellierungen im Arzneimittel- und Medizinprodukterecht, eine Stärkung der EMA sowie durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Arzneimittelproduktion innerhalb der EU.
  • Wir fordern die Stärkung der Belastbarkeit des Gesundheitssystems, indem wir Austausch und Fortbildung im Gesundheitswesen fördern und die Ausbildungen in Medizin und Pflege besser europäisch vernetzen.

… für eine offene, solidarische Gesellschaft eintreten und die Grundfreiheiten wieder in den Vordergrund rücken.

Die Corona-Krise und die Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsausbreitung haben gezeigt, wie fragil die europäische Integration noch immer ist. Grenzschließungen zerstückeln über Nacht die – sich lokal entwickelnde – offene europäische Gesellschaft, behindern die wirtschaftlichen Verflechtungen in den Grenzgebieten (kleiner Grenzverkehr), zerschneiden menschliche Beziehungskreise und gefährden damit das Zusammenwachsen der Regionen Europas.

  • Wir fordern, dass die Grundfreiheiten des Personen- und Warenverkehrs vor allem da gewahrt werden, wo sie konkret erlebbar sind. Wir möchten das Europa der gelebten Kontakte, den europäischen Alltag der kleinen Kreisläufe vor Ort in den Blick nehmen.
  • Wir fordern den Ausbau und die Unterstützung des Europas der Regionen für einen gemeinsame Problembewältigung, denn entlang der deutschen Grenzen existieren mehr als 20 Europaregionen/Euregios. Diese nachbarschaftliche Zusammenarbeit über Staatsgrenzen hinweg bietet ein enormes Potential für die konkret erlebbare Weiterentwicklung der EU.
  • Wir fordern den Einsatz eines regionalen, die persönlichen und wirtschaftlichen Verflechtungen berücksichtigenden Quarantäne-Regimes über nationale Grenzen hinweg, um panikartige Grenzschließungen zu vermeiden. Barrieren auf Straßen symbolisieren einen Rückfall in Zeiten, als Staaten sich als Konkurrenten belauerten, und versprechen der Bevölkerung die vermeintliche Rettung in den Grenzen des eigenen Staatsgebietes.
  • Wir fordern den Ausbau der Netze sowie den konsequenten Aufbau einer „EU-Cloud“. Auch die Entwicklung einer „Kontaktnachverfolgungs-App“ ist als europäisches Projekt sinnvoll zu verwirklichen, damit sie zur schnellen Wiederherstellung der Reisefreiheit (Messen, Tourismus) beitragen kann.
  • Wir fordern den Ausbau von Städtepartnerschaften, um das europäische Miteinander und den kulturellen Austausch zwischen den Bürgern zu fördern und zu vertiefen.

… die europäische Wirtschaft krisenfest machen.

Die Corona-Krise hat die Abhängigkeit der globalen, vernetzten Wirtschaft von der Funktionsfähigkeit der Lieferketten und Transportwege noch einmal sehr deutlich gemacht.

Wir Freien Demokraten bekennen uns zum Freihandel, zur Globalisierung und zum internationalen Warenverkehr. Die internationale Vernetzung sehen wir als Chance, die allen Staaten der Welt und damit allen Menschen die Möglichkeit gibt, ihre jeweiligen Stärken in der internationalen Arbeitsteilung zum Vorteil aller einzubringen.

Die Corona-Krise hat überdies die wechselseitige Abhängigkeit der großen Wirtschaftsräume untereinander (EU, NAFTA, China u.a.) noch einmal deutlich gemacht. Mangels Zulieferungen aus China konnten Produktionen in der EU bei besonders systemrelevanten Produkten etwa im Gesundheitsbereich nicht aufrechterhalten werden. Teilweise gab es innerhalb der EU Ausfuhrbeschränkungen wegen (angeblich) mangelhafter Vorräte, was zu massiven Verstimmungen innerhalb der EU geführt hat. Das phasenweise Verbot von Ausfuhren nach Italien bei entsprechenden Produkten steht dafür sinnbildlich.

Schließlich sind wir Freien Demokraten der Ansicht, dass wir für den IT-geprägten Technologiebereich mit seinem hohen Innovationspotential, der rechtlich grundsätzlich vom Urheberrecht „reguliert“ wird, auch über neue rechtliche Regelungen, z.B. im Hinblick auf die Schutzdauer, nachdenken müssen, die sich stärker an patentrechtlichen Grundsätzen als an klassischen urheberrechtlich geschützten Werken orientieren.

  • Wir Freien Demokraten fordern daher, auch im Falle von globalen Pandemien, die Transportwege und Grenzen für den internationalen Warenverkehr unter Berücksichtigung des Gesundheitsschutzes offen zu halten, damit die Lieferketten weiterhin funktionieren und Zulieferungen möglich bleiben.
  • Wir fordern, dass die europäische Wirtschaftspolitik diese Abhängigkeiten in den Blick nimmt und darauf reagiert. Dabei lehnen wir Konzepte von nationalen oder europäischen „Champions“ ebenso ab wie das „unter-Naturschutz-stellen“ von bestimmten Unternehmen oder Branchen.
  • Wir fordern eine „europäischen strategische Eigenständigkeit“ in den wesentlichen Zukunftstechnologien, wie insbesondere Digitalisierung, Automatisierung, nachhaltige Technologien für Energie (z.B. Strom, Industrie, Wohnen) und Mobilität, Biotechnologie, IT, Nanotechnik sowie der Raumfahrt durch gemeinsame europäische Projekte, eine verbesserte steuerliche Förderung von Investitionen insgesamt und einen starken Fokus auf kleine und mittlere innovative Unternehmen sowie Universitäten und Forschungsinstitute als auch auf die Diversifizierung von Wertschöpfungsketten.
  • Wir fordern eine europäische Wettbewerbspolitik, die strategisch und langfristig sowohl innerhalb der EU als auch darüber hinaus dafür sorgt, dass der Wettbewerb bestehen bleibt und nicht durch Oligopole oder gar Monopole eingeschränkt wird, weil wir überzeugt sind, dass ein starker Wettbewerb letztlich allen Menschen durch innovativere, bessere und sichere Produkte und Dienstleistungen zugutekommt.
  • Wir fordern ein Konzept, welches besser als bisher sicherstellt, dass Unternehmen, die bereits Teil von oligopolistischen bzw. monopolistischen Strukturen sind, diese Marktmacht nicht in weitere verwandte Bereiche ausdehnen können.

… die europäischen Finanzen stabilisieren.

Bereits vor der Corona-Krise war die Entwicklung der europäischen Finanzen, namentlich der Staatsverschuldung in den Mitgliedsstaaten, unbefriedigend. Trotz der positiven Wirtschaftsentwicklung zwischen 2014 und 2019 mit BIP-Wachstumsraten um 2 % gelang es den wenigsten Mitgliedsstaaten, ihren Schuldenstand im Verhältnis zum BIP signifikant zu reduzieren (Zypern, Irland, Deutschland, Niederlande, Malta). Weiterhin liegt die Verschuldung der Mehrheit der Mitgliedsstaaten oberhalb der im Maastricht-Vertrag verabredeten Grenze von 60 %. Die Corona-Krise, die in allen Mitgliedsstaaten zu einer erheblichen Neuverschuldung führt, wird diese Situation verschärfen. Hinzu kommt, dass über die Inhalte und Schwerpunkte des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens [MFR], der ab 2021 gelten soll, weiterhin sehr unterschiedliche Vorstellungen bestehen – sowohl was die Größenordnung anbelangt als auch die inhaltlichen Schwerpunkte des EU-Haushaltes. Auch die aktuellen Vorschläge zu einem EU-Wiederaufbaufonds sind sowohl hinsichtlich der Größenordnung als auch ihrer inhaltlichen Schwerpunkte und Durchführungsbestimmungen weit von einer Einigung entfernt.

  • Wir fordern bei der Verabschiedung des MFR 2021-2027 eine noch stärkere und massivere Umschichtung der Haushaltsmittel in die Bereiche Bildung, Digitalisierung, nachhaltige Technologien für Energie (z.B. Strom, Industrie, Wohnen) und Mobilität, neue Technologien (z.B. Biotechnologie, IT, Nanotechnik); Raumfahrt.
  • Wir fordern ein Neuschuldenmanagement für sämtliche neuen Schulden, welche die Mitgliedsstaaten nach vollständiger Beendigung der Corona-bedingten Einschränkungen eingehen, das strikte und belastbare Kriterien vereinbart, welche sich an den im Vertrag von Maastricht vereinbarten Kriterien orientieren und für die es nur noch klare und eng beschränkte Ausnahmen geben darf.